Was diese spezielle Zeit mit mir anstellt (1)
Was diese spezielle Zeit doch mit mir anstellt! Nicht, dass mich dies – länger – ängstigen würde, ich staune mittlerweile eher und, inmitten dieser Verbissenheit, dieses immer derberen Kampfes um die Richtigkeit des eigenen, des einzig wahren Standpunkts, dieser Schlacht, bei der man sich Zahlen entgegenschleudert und womit man aufeinander eindrischt, die eigene Interpretation stets parat, der unbändige Wille, sie bis zum endgültigen Sieg durchzusetzen, und daneben manche Lächerlichkeit des Alltags, die für oder wider den angeblichen Beweis von Verlust von Freiheit und Demokratie ins Feld geführt wird: Kriegsrhetorik allerorten – und schon der Triumph mitten unter uns, absehbar, durchsichtig, aber gefeiert, als habe man gesiegt: «Wir haben es schon immer gewusst», zum Beispiel, dass alles nicht so schlimm herauskäme, wie die verhasste Politik dies dargestellt habe, ergo alles falsch gewesen sei, was dieselbe verordnet und befohlen habe, ohne dass man einen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie sich alles entwickelt haben könnte, wäre nichts von alledem, was nun im Rückblick als «übertrieben» gegeisselt wird, je ergriffen, angeordnet, geboten und verboten worden, inmitten all dessen also wage ich zu bekennen, dass ich manches von dem zu geniessen begonnen habe, was ich mit mir anstelle in einer Zeit, in der sich vordergründig die Möglichkeiten verringert haben.
Weil sich gleichzeitig der Raum für die eigene Entfaltung vergrössert hat.
Nicht, dass ich mich als so unwichtig betrachte, dass ich gleich meine Memoiren schreiben wollte, oder als so wichtig, dass ich sie schreiben müsste, mitnichten!, aber ich habe mich in gewisser Weise wiederentdeckt, habe nachgedacht über Vergangenes, das Fundament dessen, der ich heute bin, ohne mir dies bewusst zu sein all die Zeit, in der – auch – ich durch das Leben hetzte: Ruhe und Besinnung sind eingekehrt, Verschüttetes erlebe ich plötzlich freigelegt, kleine Freuden wiederbelebt, scheinbar elefantös grosse Probleme haben sich zu den mausekleinen zurückgebildet, die sie im Kontext eines ganzen, gelebten Lebens und einer Welt letztlich sind, die in verschiedenster Hinsicht aus den Fugen geraten ist.
Eigentlich könnte manches so bleiben, wie es notgedrungen geworden ist, wäre mein Wunsch und die gewonnene Erkenntnis – und, um gleich diesen Einwand zu entkräften: nicht verordnet, sondern aus eigener Einsicht. Doch ich glaube beobachtet zu haben, dass dies nicht geschieht, man sich wieder alle Freiheiten von zuvor herausnehmen und dann nach dem Staat schreien wird, der dies und jenes halt regeln, verordnen, verbieten müsse, damit sich etwas ändere, um, sobald «er», dieses scheinbar abstrakte Gebilde, das wir doch eigentlich alle zusammen sind, dies tut, nach Freiheit zu schreien und uns dagegen zu verwahren, dass man sie beschneide. Somit: Wenn man nicht aus all den weit schlimmeren und grausameren Fehlern und Verbrechen der Vergangenheit gelernt hat, wie sollte man es diesmal schaffen?
Der portugiesische Literatur-Nobelpreisträger José Saramago, der in «Kain» den Brudermörder zu den unterschiedlichsten Schauplätzen der biblischen Geschichte schickt, lässt die Engel, die von Kain, bei Noah angelangt und damit vor der Sintflut, gefragt werden, ob sie glaubten, dass nach dem Auslöschen dieser Menschheit die darauf folgende nicht auf dieselben Fehler, dieselben Versuchungen, dieselben Irrwege und Verbrechen verfallen werde, unter anderem antworten: «…offen gesagt glauben wir nicht, wie der zweite Versuch zufriedenstellend ausgehen soll, wenn der erste zu diesem Trauerspiel geführt hat, das sich unserem Auge bietet, kurzum, nach unserer aufrichtigen Meinung als Engel und in Anbetracht der vorhandenen Beweise haben die Menschen das Leben nicht verdient.»