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Martin Andreas Walser

Jostein Gaarder: Genau richtig – oder: Du sollst dir kein Bildnis machen

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Was diese spezielle Zeit mit mir anstellt (11)

Lieblingsbücher sind ganz spezielle Bücher, nicht zwingend “die wichtigen”, nicht unbedingt jene, die “einen geprägt” haben, Bücher halt, die man noch mehr liebt als die anderen – und mit denen meist eine Geschichte verknüpft ist, eine Erinnerung, die eine bessere Chance hat, wieder wach zu werden in Zeiten wie dieser. Lieblingsbuch 10/10 …

IMG_20200528_085613~2Geht man meine bisher vorgestellten «Lieblingsbücher» durch, mag vielleicht nicht nur mir auffallen, dass das ganz grosse Thema – die «Liebe» – kaum auftaucht. Was wäre die Literatur aber ohne «die Liebe»! Durch alle Jahrhunderte und Epochen, durch helle und dunkle Jahre, die diese Welt erlebt hat, zieht sie sich hindurch, von den grossen klassischen bis hin zu den heutigen Werken. Vielleicht fällt es deshalb so schwer, ein eigentliches «Lieblingsbuch», spontan oder wohlüberlegt, heraus zu zupfen – nicht nur das Angebot ist beinahe «unendlich» (als ob es Unendlichkeit gäbe!), sondern die mögliche Auswahl zieht sich auch bei mir durch alle Regale hindurch.

Mein absolutes «Lieblingsbuch» über die Liebe ist streng genommen kein Buch, sondern ein Eintrag in Max Frischs Tagebuch (1946 – 1949) unter dem Titel «Du sollst dir kein Bildnis machen», ein Leitfaden gewissermassen, der mich ein Leben lang begleitet hat (und den ich mitunter leider vergass): «Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen (…) Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben.»

Wenn ich mich schliesslich entschieden habe, aus den immensen Möglichkeiten Jostein Gaarders «Genau richtig» auszuwählen, so deshalb, weil diese Geschichte des norwegischen Autors mich tief bewegt hat – diese kurze Geschichte einer langen Nacht: «Eirin und ich haben einander ernst versprochen, in guten wie in bösen Tagen zusammenzuhalten. Die guten Tage, fast nur gute, liegen hinter uns», bilanziert Albert, der eine schlechte ärztliche Diagnose erhalten hat: «Jetzt kommen die bösen Tage, aber vielleicht können wir auch darin etwas Gutes finden.»

Schöner, finde ich, kann man Hoffnung auf die Kraft der Liebe fast nicht ausdrücken.

Daneben haben sich mir in der jüngeren Vergangenheit einige andere Betrachtungen der Liebe aus unterschiedlichsten Blickwinkeln eingeprägt und mich berührt. Julian Barnes’ «Die einzige Geschichte» zum Beispiel. Oder Tadeusz Dabrowskis «Eine Liebe in New York». Oder, etwas weiter zurück, «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» von Milan Kundera: «Soll die Liebe unvergesslich sein, so müssen sich vom ersten Augenblick an Zufälle auf ihr niederlassen wie die Vögel auf den Schultern des Franz von Assisi.» Oder …

Damit ist die Reihe der «10 Lieblingsbücher» zu Ende, die zu benennen ich eingeladen worden bin und zu denen ich stets eine kleine Geschichte zu erzählen mir zusätzlich vorgenommen hatte. Die Liebe an ihr Ende zu stellen, ergibt für mich einen tieferen Sinn: Sie soll weiterwirken in alle Zukunft und müsste eigentlich uns aller Leben bestimmen und alles Handeln überstrahlen. Ich schreibe «müsste», weil der besorgte Blick in die heutige Welt daran zweifeln lässt, ob dieser Wunsch jemals in Erfüllung geht.

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