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Martin Andreas Walser

Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe – oder: Von Widersprüchen

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Was diese spezielle Zeit mit mir anstellt (7)

Lieblingsbücher sind ganz spezielle Bücher, nicht zwingend “die wichtigen”, nicht unbedingt jene, die “einen geprägt” haben, Bücher halt, die man noch mehr liebt als die anderen – und mit denen meist eine Geschichte verknüpft ist, eine Erinnerung, die eine bessere Chance hat, wieder wach zu werden in Zeiten wie dieser. Lieblingsbuch 6/10 …

IMG_20200523_113910~2Weshalb dieses Buch in der Auswahl meiner «Lieblingsbücher» auftaucht? Noch dazu ein «populärwissenschaftliches». Eben gerade deswegen.

Ich fand und finde, der Versuch darf nicht unterbleiben, den – interessierten – Menschen zu Themen, die schwer(er) zugänglich sind, solche «Hintertreppen» anzubieten. Und eben nicht irgendwelche vorgefertigten Meinungen und Urteile und nicht unlesbar im Sinne wissenschaftlicher Abhandlungen, sondern zwar populär, aber gleichwohl basierend auf einem wissenschaftlichen Hintergrund. Das Denken anregende und das Interesse weckende Bücher, die Lust auf weiteres Entdecken und auf die vertiefte geistige Auseinandersetzung mit wichtigen Fragen machen, erachte ich gerade in der heutigen Zeit als beinahe überlebenswichtig.

Es ist doch merkwürdig oder erschreckend – je nach Sichtweise –, mit wie wenig geistiger Nahrung man sich heutzutage zufrieden zu geben scheint. Hier genügen einige wenige Sätze von, zugegeben gescheiten, Menschen, die berühmten Zitate, und man nickt oder schüttelt den Kopf und geht danach zur Tagesordnung über, dort reicht eine knackige Schlagzeile oder ein Schlagwort, selbst endlos wiederholte Halb- oder Unwahrheiten befriedigen uns, man ist sofort «überzeugt» oder zufrieden, glaubt daran oder lehnt kategorisch ab, ohne sich auch nur einen kurzen Moment die Frage zu stellen, ob stimmt, was da aufgetischt wird, was dahintersteckt oder in welchem Kontext dies oder jenes gesagt oder geschrieben oder gedacht worden ist, kurz: ohne dass man versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen.

Wir sind anscheinend sofort bereit, jeden noch so offensichtlichen Unsinn zu glauben (und lehnen gleich darauf jede Art eines – religiös motivierten – Glaubens wortstark ab), wir schreien nach Freiheit (und verlangen zeitgleich «vom Staat» in anderen Bereichen ein «entscheidendes Handeln», sprich: Eingriffe in die Freiheit – aber eben nur in diejenigen «der anderen»). Doch wir verlangen «Freiheit» und vergessen die «Verantwortung». Wir besässen die Freiheit, jederzeit selber Verantwortung zu übernehmen und zu tragen, jeder Verantwortung voran jene für das eigene Handeln. Eigenartigerweise scheint sich der Mensch freier zu fühlen, kann er sich auf den Staat verlassen, der alles für ihn regelt und ihm damit das Denken abnimmt – um sogleich denselben Staat, dessen Teil er notabene ist, zu verteufeln, der «naturgemäss» stets «das Falsche» regelt oder verbietet und untersagt.

Diese Hintertreppe, die zu nehmen mir viel Spass bereitet und manche Einsicht vermittelt hat, ist jedenfalls eine gute Sache, wird man auf diese Weise angeregt, sich auf Gedanken und Ansichten von und die Philosophen selbst einzulassen – und nachzudenken, weiterzuforschen, den grossen Fragen der Menschheit vertieft nachzugehen.

Gar nicht schlecht passend zum oben Ausgeführten, habe ich heute im Aufsatz eines Philosophen gefunden, den ich lange vor meinem Weg «über die Hintertreppe» gelesen habe: «Sind Individualität, persönliche Autonomie, individuelles Handeln veraltet, eher Bremsen als Vehikel des (technischen) Fortschritts?» Sie wurde 1966 (von Herbert Marcuse) gestellt (und weder positiv noch negativ bewertet). Darüber nachzudenken lohnt sich weiterhin.

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